Kleinfang

Das passt ja wi d Fuscht uf z Eintä uz Oug uf z Angerä.

Montag, 16. Februar 2009

Schnappschüsse aus Barcelona

Ich greife in meine Umhängebrieftasche und ziehe die Visitenkarte von einem Restaurant hervor. Vor wenigen Minuten habe ich dieses verlassen, nachdem ich dort äusserst köstlich gespiesen hatte. Im Ohr hängt mir immer noch das Stimmengewirr der Gäste, das sich mit den Klängen eines Klaviers und dem Geklapper aus der Küche mischte. Ich hatte alleine an einem Tisch sitzend drei Gänge verzehrt und Rotwein getrunken, die Leute beobachtend, die Atmosphäre in mich aufsaugend.
Jetzt stehe ich vor den Einlassschranken in der Metrostation. Ich stecke die Visitenkarte zurück. Denn was ich eigentlich herausnehmen wollte, war mein U-Bahn-Ticket.

"Du bist eine ernste Person, Isabelle", sagt er zu mir. Ich lache. "Es kommt darauf an", antworte ich und noch während ich das sage, finde ich, dass er, der mich erst seit wenigen Minuten kennt, eigentlich recht hat. Warum habe ich jahrelang das Gegenteil geglaubt?

"I've been in the banking business. I've retired lately. Now, I do all the things I'd have liked to do when I was your age. I always said: We should retire when we're thirty – for ten years and then go back to work. As I've said, I've retired recently from banking and just as I did so the stockmarket crashed. I told them: they shouldn't have let me go."

Ich will mir einen Schal kaufen und gehe zur Kasse. Dort fliegt mir ein spanischer Satz entgegen. "Em... I... don't speak Spanish", sage ich. "Is it a bressand?", fragt mich die Verkäuferin. "Em... No, no. It's for me." "For myself", denke ich, mich selbst korrigierend. Später fällt mir ein, dass ich "Yes", hätte sagen sollen, "but you don't need to wrap it up." Es ist ein Geschenk. For me, nein, myself.

Ich kaufe mir ein paar schwarze Leggings. Sie könnten mir noch etwas besser passen, aber ich will jetzt einfach welche haben. Doch kurz zuvor hatte ich noch etwas ganz anderes gewollt. Ich wollte zur Sagrada Familia gehen. Die Metrostation, welche ich benutzen wollte, wird aber soeben umgebaut und ich fand keinen anderen Zugang zu der U-Bahn-Linie die ich hätte nehmen müssen. Ich lief mehrere Male die Strasse hoch und wieder runter, verlor die Orientierung, fand sie wieder, weil ich merkte, dass ich an meinen Ausgangspunkt zurückgekehrt war. Ich ging über Fussgängerstreifen, wobei ich soeben die Unterführung darunter von der Seite her durchquert hatte, auf die ich nun wieder ging. Ich ging durch Gänge, die mich unterirdisch wieder die Strasse entlang zurückführten, die ich zuvor am Tageslicht gegangen war. Ich versuchte es zweimal beim selben Metroeingang, wobei ich jedesmal glaubte, nun endlich den richtigen gefunden zu haben. Ich drehte den Stadtplan in alle Richtungen, drehte mich um meine eigene Achse und dann auf dem Absatz um und ging in den Laden, in dem ich nun bin.

Picasso sagt mir nicht viel. Er könnte mir aber trotzdem mal verraten, was alle an ihm so toll finden.

Freitag, 6. Februar 2009

Artikel Nr. 16 - Ein Rauschen im Ohr






















Sich mit Geschichten betrinken. Das kann ich. Jeder kann das, jeder tut es. Kennst du das? Es beginnt irgendwie, du hörst einen Satz, hast einen Gedanken, siehst ein Bild und dann bist du drin und willst nur noch einsaugen. Du musst unbedingt wissen, wie die Geschichte ausgeht, nicht aber, bevor du ihren Verlauf in allen Einzelheiten erfahren hast. Du beginnst zu suchen, bist ganz aufmerksam, überlegst ganz scharf. Tiefer, tiefer versinkst du darin. Ob du isst, unterwegs bist, mit jemandem sprichst, die Zeitung liest, immer kreisen deine Gedanken um diese eine Geschichte. Tagelang, nächtelang. Ein Film in meinem Kopf, ein Theater in meinen Gedanken, dein Wort in meinem Ohr. Es ist ein einziger Rausch, enthoben dessen, was rund um dich geschieht, was real ist. Sich mit Geschichten betrinken. Das kann ich. Jeder kann das, jeder tut es. Auch die Frenchmanicureklatschtanten, wenn sie ihre Boulevardzeitungen lesen. Besonders sie, sie sind regelrecht süchtig. Die Qualität des Inhalts ist egal. Hauptsache billig und wirkungsvoll. Sie saugen die Geschichten in sich auf, während ihre Modellflugzeugehemänner im Wirtshaus an ihrem Bierglas nippen. Und beim zu Bett gehen sind sie alle beide besoffen und schlafen ihren Rausch aus. Doch auch am nächsten Morgen sagt ihnen ihr Kopf, dass da etwas war, gestern. Auch die Herzschmerzmädchen tun es, wenn sie sich jeden Abend ihre Fernsehserien in Serie reinziehen. Völlig absorbiert. Und in ihren Träumen spielen die Schauspieler weiter. Ihre Lieblinge werden ihre Liebhaber und den ganzen Tag danach denken sie an die vergangene Nacht. Auch sie sind süchtig. Sie müssen unbedingt wissen, wie es weitergeht. Am nächsten Abend. In der Zwischenzeit wird die Erinnerung durchsucht. Sucht. Sich mit Geschichten betrinken. Das kann ich. Jeder kann das, jeder tut es. Auch die Playstationbuben, die Zeitungskaffeegeniesser, die Lebenundlebenlassenstudenten, die Partybürolisten, die Weltverbesserergynäkologen, die Wörterbuchkinder und Kopfhörerrucksacktouristen. Kannst du es auch? Komm, schau mir in die Seele. Tiefer, tiefer. Schau, schau in das Glas. Tiefer, tiefer. Nimm noch einen Schluck. Noch einen, ja. Betrink dich an meiner Geschichte. Mein Schmerz in deinem Herz, mein Schicksal unter deiner Hühnerhaut, mein Wort in deinem Ohr. Und ich hab ein Lied im Ohr, eine unfertige Geschichte, eine angebrochene Flasche.

I only get drunk on white wine...

Wir haben alle unsere Geheimnisse, Geschichten, Süchte. Kommen nicht los, sind eingesogen, haben eine Fettleber. Unvollendete Lieder, angebrochene Flaschen, Leichen im Keller. Und ich hab wieder ein Lied im Ohr, einen  Loose-end-Gedanken, ein halbleeres Glas.

There is something inside me,
something you cannot see,
but when you touch it you can feel it:
The scar on my soul.

Wirkt der Alkohol? Spürst du meine Narbe? Wie schmeckt der Wein? Bitter? Süss? Wie ist der Rausch? Wie lange hält er wohl an? Sich mit Geschichten betrinken. Soll ich dir noch ein Glas einschenken? Oder willst du schlafen gehen? Geh nur, es ist nicht real, enthoben dessen, was rund um dich geschieht. Lass mich in meinem Rausch. Meine Geschichte in meinem Kopf, mein Leben in meinem Ohr, meine Wahrheit in deiner Interpretation. Dein Speichel an meinem Flaschenhals.

"Reiches Innenleben", Sovietisches Anti-Alkohol-Plakat